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Der Besuch der alten Dame

Eine tragische Komödie in drei Akten von Friedrich Dürrenmatt

Aufführungen am 1. und 4. Juli 2003
in der Aula des Mädchengymnasium Borbeck,
Essen

Claire Zachanassian, mit bürgerlichem Namen Klara Wäscher, kehrt als Milliardärin in ihre total verkommene Heimatstadt Güllen zurück, deren Bürger sie vor Jahrzehnten schmachvoll ausgestoßen und zur Hure gemacht haben. Ihre Rache gilt dem früheren Geliebten Alfred Ill. Er hat sie, obwohl Claire schwanger war, einer bürgerlichen Partie wegen verlassen und damit in der spießigen Güllener Gesellschaft diskreditiert. Klara bietet den verarmten Bürgern eine Milliarde, wenn sie Ill umbringen. Die Güllener weisen das Ansinnen zunächst empört zurück, um dann doch den Verlockungen der Milliarde immer mehr zu erliegen. Verbunden mit dem allmählichen Entschluss der Güllener, Ill zu ermorden, ist der wirtschaftliche Aufstieg der Stadt; Wohlstand und Technik breiten sich aus…

Inhalt

Erster Akt

Die heruntergekommene Kleinstadt Güllen bereitet sich auf den Besuch von Claire Zachanassian vor. Nachdem die Wirtschaft in der Stadt zum erliegen gekommen ist, hofft man, dass Claire, mit bürgerlichem Namen Klara Wäscher, die vor fünfundvierzig Jahren die Stadt verlassen hat und nun eine bedeutende Multimilliardärin ist, durch großzügige Spenden der Gemeinde zu neuer Blüte verhilft. Der Kaufmann Ill, der früher mit Klara befreundet war, soll alte Gefühle wecken und so die Milliardärin milde stimmen.

Als die Zachanissian dann viel zu früh eintrifft – sie hat den Zug auf freier Strecke durch Ziehen der Notbremse angehalten -, ist noch nichts vorbereitet. Doch die Großzügigkeit der Milliardärin, die dem verdutzend Zugführer kurzerhand viertausend in die Hand drücken lässt, und ein vielversprechendes Annähren Ills lassen die Hoffnungen steigen. Der Bürgermeister, der Rektor des Gymnasiums und der Polizeiwachtmeister jedenfalls sind voller Hoffnung, auch wenn Klara ein teilweise sonderbares Verhalten an den Tag legt.

Im Konradsweilerwald, in dem Klara und Ill oft in ihrer Jugend unterwegs waren, keimen neben viel Frustration über das verkorkste Leben alte Gefühle auf und Klara verspricht dem Krämer, dem Städtchen ihrer Jugend zu helfen.

Das konkretisiert sie später vor der gesamten Gemeinde: Sie will Güllen eine Milliarde schenken und verlangt dafür Gerechtigkeit. Dem verdutzten Saal erklärt sie, was geschehen ist: Vor fünfundvierzig Jahren hatte der damalige Oberrichter Hofer eine Vaterschaftsklage zu behandeln. Klara klagte Ill an, der Vater ihres Kindes zu sein. Dieser bestritt die Tat und hatte zwei Zeugen mitgebracht, die er bestochen hatte und die beschworen, sie hätten mit Klara geschlafen. Die Klage wurde abgewiesen und Klara ging als Hure in ein Hamburger Bordell, wo sie später ein Milliardär sah und heiratete. Der ehemalige Richter ist nun Klaras Butler, die Zeugen ließ sie in der ganzen Welt suchen, finden, kastrieren und blenden. Nun will Klara Güllen eine Milliarde schenken, wenn jemand Alfred Ill tötet. Der Bürgermeister lehnt diesen Vorschlag im Namen der gesamten Bevölkerung entsetzt ab.

Zweiter Akt

Claire Zachanassian hat sich inzwischen in einem heruntergekommenen Hotel eingenistet. Währenddessen beginnen einige Bürger, beim Kaufmann Ill anschreiben zu lassen. Als dieser erkennt, dass seine Mitbürger auch in anderen Geschäften auf Kredit einkaufen, wendet er sich an die Polizei. Doch der Polizeiwachtmeister sieht keinen Grund, Klara zu verhaften. Ill bemerkt, dass auch der Polizist über seine Verhältnisse lebt – alle tragen neue gelbe Schuhe. Ill sucht den Bürgermeister auf. Dieser versichert ihm, dass niemand Ill töten will, doch der neue Wohlstand hat auch auf den Bürgermeister übergegriffen. Ill bekommt es mit der Angst zu tun. „Keiner will mich töten, jeder hofft, dass es einer tun werde und so wird es einmal einer tun.“ Er sucht Hilfe beim Pfarrer. Dieser rät ihm, aus der Stadt zu fliehen, um die Bürger nicht in Versuchung zu führen. Doch Ill erkennt, dass auch der Pfarrer sich dem Wohlstand nicht entziehen kann – eine neue Glocke ertönt.

Ill will zum Bahnhof, um von dort zu fliehen. Doch alle Bürger haben sich dort versammelt und halten ihn davon ab, den Zug zu besteigen.

Dritter Akt

Der Lehrer und der Arzt suchen Claire Zachanassian auf, um einen letzten Versuch zu starten, sie von ihrem Plan abzuhalten. Doch bald müssen sie erkennen, dass Klara ganz Güllen gehört und sie es war, die die Stadt in den Ruin getrieben hat. „Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.“

Die Stadt unterdessen lebt weiter auf Kredit. Der Presse wird jedoch nichts von den Problemen mit Klara erzählt. Ill hat sich in sein Zimmer zurückgezogen, nur der betrunkene Lehrer könnte der Presse die Wahrheit erzählen, doch als er loswettern will, wird er von den Leuten abgehalten. Da erscheint Ill – und auch er befiehlt dem Lehrer zu schweigen. Ill hat sich in sein Schicksal gefügt.

Der Bürgermeister hat für den Abend eine Gemeindeversammlung einberufen. Es soll über den Vorschlag von Klara abgestimmt werden. Um vor der Presse zu bestehen, soll Ill offiziell zum Vorsitzenden einer von Klara einberufenen Stiftung ernannt werden. Ill will sich dem Beschluss der Versammlung stellen. Als der Bürgermeister vorschlägt, Ill solle sich selber töten, um die Gemeinde aus ihrer misslichen Lage zu befreien, lehnt dieser ab. „Ihr müsst nun meine Richter sein! … Für mich ist es die Gerechtigkeit, was es für euch ist, weiß ich nicht. Gott gebe, dass ihr vor eurem Urteil besteht. Ihr könnt mich töten, ich klage nicht, ich protestiere nicht, ich wehre mich nicht, aber euer Handeln kann ich euch nicht abnehmen.“

Ill nimmt von seiner Familie Abschied, indem sie mit dem neuen Wagen des Sohnes in den Konradsweilerwald fahren. Dort trifft er auf Klara, die ihm verspricht, seinen Sarg nach Capri in ein eigens gebautes Mausoleum zu bringen.

Auf der Gemeindeversammlung wird der Vorschlag, Ill zu töten, einstimmig angenommen. Noch im Theatersaal, wo die Gemeindeversammlung abgehalten wurde, findet Ill seinen mysteriösen Tod. „Herzschlag“, wie der Arzt feststellt – so hatte es Klara zu Anfang gefordert. „Tod aus Freude“. Klara will nun mit dem Leichnam nach Capri fahren, der Bürgermeister verlangt tonlos nach dem Scheck.

Thomas Krieger

Fotos

Besetzung

INSZENIERUNG UND BÜHNENBILDOliver Schürmann
 GESAMTLEITUNGJörg Weitkowitz
   
Die BesucherCLAIRE Zachanassian, geb. Wäscher, Multimillionärin (Armenian-Oil)Antonia Metken
 Ihre GATTEN VII – IXJörg Weitkowitz, Jan Röer, Markus Müller
 Der BUTLERRené Böminghaus
 KOBYArne Kovac
 LOBYCarmen González
Die BesuchtenILLThomas Krieger
 Seine FRAUClaudia Rupp
 Seine TOCHTERAngelika Baege
 Sein SOHNPasqual Temmesfeld
 Der BÜRGERMEISTEROliver Schürmann
 Der PFARRERMarkus Müller
 Der LEHRERMarc Weitkowitz
 Der ARZTJörg Weitkowitz
 Der POLIZISTMarco Heckhoff
 Drei BÜRGERAnnika Rupp, Claudia Rupp, Melanie Zaparty
 Die MALERINDajana Finke
Die SonstigenBAHNHOFSVORSTANDAndré Remy
 ZUGFÜHRERAndré Remy
 PFÄNDUNGSBEAMTERArne Kovac
Die LästigenPRESSEMÄNNERMarkus Müller, Jörg Weitkowitz
 RADIOREPORTERJan Röer
 KAMERATEAMRené Böminghaus, Angelika Baege, Pasqual Temmesfeld
   
 BELEUCHTUNG UND TONBurkhard Angstmann
 MASKEDajana Finke, Frauke Krüger, Melanie Zaparty
 BAUTENJörg Weitkowitz, Marc Weitkowitz
 MALEREIENAndrea Böminghaus, Antonia Metken, Jörg Weitkowitz, Marc Weitkowitz
 KOSTÜMEMarkus Müller, Jörg Weitkowitz
 REQUISITEOliver Schürmann, Jörg Weitkowitz
 SOUFFLEURERené Böminghaus, André Remy
 ABENDKASSEAndrea Böminghaus, Monika Meise, Heike Rupp

Autor

Friedrich Dürrenmatt

Seine Theaterstücke und Kriminalromane sind oft durch groteske Elemente und das Verfahren der Verfremdung geprägt. Dabei gerät seine Literatur immer auch zum Angriff auf die verlogene Doppelmoral der Gesellschaft.

Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Konolfingen bei Bern geboren. Er studierte Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaften in Zürich und Bern (nicht, wie meist angegeben wird, Theologie), arbeitete als Zeichner und Graphiker und schrieb Literatur- bzw. Theaterkritiken für die Züricher Weltwoche. Viele seiner literarischen Motive finden sich auch in seinen zahlreichen Zeichnungen und Bildern aus dieser Zeit wieder.

Anfang der 40er Jahre begann er seine schriftstellerische Arbeit mit kafkaesken Erzählungen, die später in dem Prosaband „Die Stadt“ gesammelt wurden. Darüber hinaus entstanden erste Texte fürs Kabarett.

Die Mehrzahl der Theaterarbeiten Dürrenmatts ist durch den außerordentlich sicheren und effektvollen szenischen Zugriff des Autors charakterisiert: eine überaus reiche theatralische Phantasie verbindet sich mit geistvollem Sprachwitz. Die zum Teil absurde und makabre, aber stets amüsante Satire lebt von grotesken Verzerrungen. Dürrenmatts Vorbilder sind Aristophanes, Nestroy und Wedekind. Zweifellos gibt es in seinen Werken auch einen Einfluss Bertolt Brechts.

1947 wird sein erstes Stück aufgeführt: „Es steht geschrieben“. Mit diesem Stück über die Sekte der Wiedertäufer im Münster des 16. Jahrhunderts, das als Neufassung 1967 unter dem Titel „Die Wiedertäufer“ erschien und „Romulus der Große“ (1948, Neufassung 1958), über den Untergang Roms, verbindet sich ein Sinn für komische Ironie und das Absurde mit einer szenischen Darstellung des Gewalt.

Die Theaterstücke „Die Ehe des Herrn Mississippi“ (1952, Neubearbeitung 1957) und „Ein Engel kommt nach Babylon“ (1954, Neubearbeitung 1957) machten ihn als Dramatiker einem breiten Publikum bekannt. Nach dem Erfolg der ersten Theaterstücke ließ sich Dürrenmatt als freier Schriftsteller in Neuchâtel nieder.

Mit „Der Besuch der alten Dame“ (1956) und „Die Physiker“ (1962, Neufassung 1980) avancierte er zu einem der bedeutendsten Dramatiker der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt Dürrenmatt 1983 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur und 1986 den Georg-Büchner-Preis.

Bekannt wurde er auch als Erzähler („Der Richter und sein Henker“ (1951), „Der Verdacht“ (1952), „Die Panne“ (1956) und „Das Versprechen“ (1958)).

Im Zentrum seiner Arbeit aber steht das Theater; er schrieb nahezu 30 Stücke, von denen er manche mehrfach überarbeitet hat. Im spielerischen, burlesken und komödiantischen Treiben auf der Bühne verbirgt sich Dürrenmatts konsequenter Moralismus. Er benutzt die Komödie als die für ihn einzige noch mögliche dramaturgische Form, um Heuchelei, Falschheit und Absurdität der Welt vorzuführen (Tragikomödie). Sein Hang zur makabren Groteske, der das Absurde der Wirklichkeit zu-gleich verhüllt und entschärft, trägt manchmal dazu bei, dass sein Grundthema (Gerechtigkeit und Gnade) und seine Intentionen (auf die potentielle kriminelle Energie der Macht und die Verführbarkeit des Menschen hinzuweisen) verwischt oder überlagert werden.

Dürrenmatts spätere, vom Autor durchweg als „Komödien“ bezeichnete Dramen, fanden geringere Resonanz bei Publikum und Kritik. Hierzu gehören „Der Meteor“ (1966), „Porträt eines Planeten“ (1971), „Der Mitmacher“ (1973) und „Achterloo“ (1983).

Seine letzten Romane „Justiz“ (1985) und „Durcheinandertal“ (1989) lassen nochmals sein Interesse an juristisch-moralischen Fragestellungen und die illusionslose Weltsicht ihres Verfassers erkennen.

Dürrenmatt trat außerdem als Autor von Hörspielen („Gesammelte Hörspiele“ (1961)) und Essays („Zusammenhänge“ (1976), „Albert Einstein“, (1979)) hervor. Seine apokalyptisch-visionären Bilder wirken wie Illustrationen des literarischen Werks.

1946 heiratete Dürrenmatt Lotti Geißler, mit der er drei Kinder hatte. Ein Jahr nach dem Tod von Lotti Geissler heiratete er 1984 Charlotte Kerr.

Friedrich Dürrenmatt starb am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel an den Folgen eines Herzinfarkts.

Marc Weitkowitz

Aus dem Programmheft

Foyer

Lieber Zuschauer,

ich freue mich, Sie heute Abend als Besucher des TheaterLaien e.V. im Mädchengymnasium Essen-Borbeck begrüßen zu dürfen.

Unsere neuste Produktion ist die tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt, dem großen Schweizer Schriftsteller, aus dessen Feder unter anderem die ebenso berühmten Werke „Die Physiker“ und „Der Richter und sein Henker“ stammen.

Als ich mich mit Freunden über dieses Projekt unterhielt, stellte ich fest, dass einige von ihnen mit Dürrenmatt nicht viel anzufangen wussten, ist er doch mit seinen oft schwierigen Thematiken, die er in seinen Werken zur Sprache bringt, nicht so leicht zugänglich, wie es in Komödien üblicherweise zugeht. Und so könnte Ihnen, verehrter Zuschauer, schon einmal das Lachen an diesem Abend im Halse stecken bleiben. Hier ist nichts leichtgängig, und manches, was auf den ersten Blick lustig erscheinen mag, ist vielmehr grotesk.

Warum dann also dieses Stück? Dazu mehr an anderer Stelle in diesem Programmheft. Für uns jedenfalls stellte es einmal mehr eine Herausforderung dar, sich neuen Thematiken zu stellen und die zeitweise knappe Sprache hoffentlich eindrucksvoll szenisch umzusetzen. Seit den ersten Proben im November letzten Jahres ist viel Zeit vergangen, in der man sich mit dem Stück auseinandersetzen konnte. Zahlreiche Mitwirkende haben bei vielen Proben einiges gelernt, manche Mitglieder haben sich darüber hinaus beim Bau des Bühnenbildes, beim Zusammenstellen der Requisiten, beim Aussuchen und -leihen der Kostüme, beim Organisieren und einigem darüber hinaus engagiert, um Ihnen, lieber Zuschauer, einen amüsanten, aber auch nachdenklichen Abend zu bescheren.

Und während nun hinter dem geschlossenen Vorhang die letzten Vorbereitungen für die heutige Aufführung laufen, möchte ich meinen obligatorischen und ehrlichen Dank denjenigen aussprechen, die heute auf, vor und hinter der Bühne zum Gelingen dieses Abends beitragen, denjenigen, die in der Vorbereitungszeit viel Freizeit für dieses Projekt geopfert haben, der Tuttmann-Schule und dem Mädchengymnasium Borbeck für die gelungene Kooperation, insbesondere den Herren Podbevsek und Franken, den Freunden und Förderern unseres Vereins sowie Ihnen, verehrter Zuschauer, für Ihr Erscheinen.

Ich wünsche Ihnen eine interessante und schöne Zeit mit unserem aktuellen Stück, dem „Besuch der alten Dame“!

Thomas Krieger

Herzlich Willkommen, Claire Zachanassian!

„Warum Dürrenmatt?“ könnte die Überschrift zu diesen Gedanken auch lauten. Präsentiert das TheaterLaien heute nicht eine verstaubte Moralkomödie der Wirtschaftswunderzeit? Ich denke nicht, aber lesen Sie selbst:

Man kann Dürrenmatts Werk von vielen Seiten her beleuchten: Da ist Alfred Ill mit seinem eingefahrenen Leben, in das unfreiwillig eine beachtenswerte Dynamik einbricht. Da ist die Alte Dame mit der Forderung nach Gerechtigkeit und der Frage, ob ihre Forderung gerechtfertigt ist und, wenn ja, auch die Umsetzung der Forderung? Ich möchte mich auf die Rolle der Güllener beschränken, Mitläufer und Gleichgültige, Menschen, die uns allen sehr nahe stehen und uns vielleicht ähnlicher sind, als wir es wahrhaben wollen.

Was als harmlose Provinzposse zu beginnen scheint mit dem reichlich ungeschickten „Mehr Schein als Sein“ der Güllener, entgleitet dem beschaulich Kleinbürgerlichen zu einer Menschenjagd und endet im gemeinschaftlichen Mord an Alfred Ill. Damit ist Dürrenmatts Stück zeitlos und aktuell zugleich. Der Topos des gemeinschaftlichen Mordes ist ein alter. Schon in der Antike wurde Cäsar im Jahre 53 v. Chr. von den römischen Senatoren gemeinsam erstochen: Dadurch, dass jeder zustach, wurde die Schuld verteilt, nach Auffassung der Täter sogar aufgehoben, denn „ohne meinen Stich wäre Cäsar ja trotzdem tot“. Hinzu kommt die Zeugengemeinschaft à la „mitgehangen, mitgefangen“, aus der sich niemand im Nachhinein herausstehlen kann. Auch in der Literatur gibt es zahlreiche Variationen zu diesem Thema, erwähnt sei nur Agatha Christies berühmter „Mord im Orientexpress“, bei dem einem verhassten Menschen gemeinschaftlich der Garaus gemacht wird.

Doch wir brauchen uns nicht in den Bereich der Fiktion zurückzuziehen: Noch vor wenigen Wochen berichtete die Presse über den Brauch bei Exekutionen in US-Gefängnissen, dass eines der Gewehre mit Platzpatronen geladen ist, auf dass jeder der Henker sich im Glauben wiegen kann, sein Schuss sei nicht der tödliche gewesen. Noch näher, und dies sei das letzte Beispiel, das brandenburgische Dorf Dolgenbrodt, wo in den 90er Jahren die Einwohner gemeinschaftlich eine Skinhead-Gang angeheuert und dafür bezahlt haben, dass diese das örtliche Asylbewerberheim in Brand steckte.

Dies wirft grundlegende Fragen auf: Wie kommt es zu solch einer Verschwörung? Welche Entscheidungskompetenz bleibt dem Einzelnen? Was bleibt am Ende?

Ich möchte den Fragen anhand des Ihnen heute präsentierten Stückes nachgehen. Am Anfang ist der Alltag, der graue Alltag ohne Hoffnung und Perspektive („Das einzige Vergnügen, was wir noch haben: Zügen nachschauen.“). Da blitzt am Ende des Tunnels ein neuer Stern auf: Geld! Allein die Vorstellung der Milliarde von Claire Zachanassian treibt die Phantasie der Güllener an – und ihre Kauflust. Ob die Bedingung, die an die Vergabe der Milliarde geknüpft ist, immer mitgedacht wird, wage ich zu bezweifeln. Sonst könnte ich nicht erklären, dass auch Ills Familie munter beim „Shoppen“ mitmischt. In einer römischen Weisheit heißt es „et respice finem“ – nein, die Güllener bedenken das Ende und die Konsequenzen ihres Handelns nicht. Immer tiefer verstricken sie sich in Schulden und damit in Schuld, denn die materiellen Schulden lassen sich nicht abtragen, ohne an Ill schuldig zu werden.

Wem dies auffällt, der versucht, den Teufelskreis zu durchbrechen, so der Pfarrer („Flieh! Führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst.“) oder der Lehrer in seiner mutigen Ansprache in Ills Laden („Ach, Ill. Was sind wir für Menschen? Die schändliche Milliarde brennt in unseren Herzen.“). Doch – und auch das scheint charakteristisch zu sein, wenn nicht ein glücklicher Zufall alle Menschen, die noch guten Willens sind, zusammenführt, dann erdrückt die Mehrheit der Mitläufer die wenigen Aufrechten und lässt sie gleich dem letzten frischen Apfel im Korb bald auch Schimmel ansetzen und sich einem blauäugigen Traum vom besseren Leben hingeben.

Am Ende stehen zwei Dinge: Ill gibt die Verantwortung für das Abzusehende an die Güllener zurück: „Ich unterwerfe mich eurem Urteil, wie es auch ausfalle. Für mich ist es die Gerechtigkeit, was es für euch ist, weiß ich nicht. Gott gebe, dass ihr vor eurem Urteil besteht.“ Damit ist die Frage der Gerechtigkeit, wie sie Claire Zachanassian begehrt, vordergründig geklärt; Ill bekennt sich schuldig, und durch die Vollstreckung des Urteils wird diese Schuld gesühnt. Doch offen bleibt Gerechtigkeit auf der zweiten Ebene: Wer richtet die Güllener, die Ill um einer Milliarde Willen verraten haben wie ihrerzeit die beiden Eunuchen Claire „um eine Flasche Schnaps“? Auch wenn die Menschenleben von Claire Zachanassian und von Alfred Ill höchst unterschiedlich taxiert werden, macht dies einen Unterschied für das Urteil, das wir über Güllen zu sprechen haben? Oder für das Urteil, das über uns gesprochen werden wird, die wir tagtäglich Menschen verraten um weit weniger als eine Milliarde?

Das zweite ist der Scheck. Ob eingelöst oder verweigert, lässt Oliver Schürmann in seiner Dürrenmatt-Interpretation bewusst offen. Denn vielleicht besteht die Gerechtigkeit der Frau Zachanassian gerade darin, dass sie am Ende den Güllenern vorführt, dass es nicht möglich ist, sich mit neuer Schuld von alter Schuld reinzuwaschen. Dass es am Ende nicht zum Ziel führt, auf Kosten eines Sündenbocks das selbstverschuldet verfahrene Leben gerade zu rücken. Und vielleicht sogar: Dass diese Welt böser ist als erwartet und befürchtet, dass die Milliardärin es einfach nicht nötig hat, Wort zu halten, so wie von den Güllenern auch niemand Ill gegenüber Wort gehalten hat und solidarisch geblieben ist. Dies allerdings wäre wohl ein allzu finsterer Blick in die Zukunft, eine tiefgehende Aufforderung zum grundsätzlichen Perspektivwechsel, wenn es mit uns nicht so enden soll wie mit Güllen.

Ich denke, Dürrenmatt und Schürmann wollen an dieser Stelle den Zeigefinger erheben, doch nicht zur moralischen Belehrung, sondern in seiner ursprünglichen Funktion zum Zeigen, zum Hinweisen auf die Mechanismen, nach denen unsere Welt und auch wir alle funktionieren. Doch sie tun dies, und nur so ist es erträglich, mit einem guten Schuss Humors, der Ihnen diesen Abend hoffentlich nicht zu allzu schwerer Kost gereichen lässt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen interessanten Abend.

André Remy

Zitate aus der Probenarbeit

Oliver Schürmann:
„… und dann stellt ihr euch dort in einer Reihe auf!“ –
Carmen González:
„In Formation?“ –
Oliver Schürmann:
„Ja, das war jetzt eine Information.“

Oliver Schürmann:
„Nein, so geht das nicht. Das sieht irgendwie so gelangweilt aus.“ –
Jan Röer:
„Wieso, ich hab‘ doch gar nichts gemacht.“ –
Oliver Schürmann:
„Ja, eben.“

Presse

Bis zur kleinsten Rolle hervorragend besetzt

TheaterLaien beeindrucken mit Besuch der Alten Dame

Mit Friedrich Dürrenmatts tragischer Komödie „Der Besuch der alten Dame“ stellten sich die Borbecker TheaterLaien neuen Herausforderungen.

Ihre Vorstellung zeigte, dass sich die Gruppe nicht vor schwieriger Thematik zu scheuen braucht. Unter Gesamtleitung von Jörg Weitkowitz und in einer Inszenierung von Oliver Schürmann brachten die Laienschauspieler ein Theaterstück auf die Bühne, in dem sie enormes schauspielerisches Können bewiesen und mit szenischer Umsetzung beeindruckten.

Das 18-köpfige Ensemble verwandelte die Bühne des Mädchengymnasiums Borbeck in einen Schauplatz der tragischen Geschichte der Bewohner Güllens. Nach 45 Jahren kehrt die Milliardärin Claire Zachanassian in ihren Heimatort Güllen zurück, das von der Wirtschaftskrise gezeichnet ist. Die Bewohner leben unter miserablen Umständen und deshalb gerät ihr Sinn für Humanität und Moral ganz schön ins Wanken als ihnen die alte Frau eine Milliarde verspricht, wenn sie Claires Jugendfreund Alfred Ill umbringen. Claire fordert Gerechtigkeit, denn Alfred verriet sie vor 45 Jahren und heiratete eine andere.

Die Schauspieler entführten das Publikum in die kleine Welt der Güllener, die auf der Suche nach der wahren Gerechtigkeit sind. Die Charaktere waren bis zur kleinsten Rolle hervorragend besetzt. Alle Mitwirkenden sprachen mit Klarheit und Ausdrucksstärke und sie verstanden es, sowohl die komischen als auch die tragischen Aspekte herauszustellen. Besonders herausragend spielten Antonia Metken als Claire, Thomas Krieger als Alfred Ill und zwei Weitkowitz als Lehrer.

Die Umsetzung des dritten Aktes war besonders beeindruckend, als sich der Vorhang zu der Szene hob, in der Alfred Ill von der Gemeindeversammlung zum Tod verurteilt wurde. Inszeniert wie das berühmte Gemälde von Leonardo da Vinci „Das letzte Abendmahl“ saß Alfred, der arme Sünder, inmitten der Güllener. Die Spannung entlud sich erst, als Alfred Ill zum Schluss seinen mysteriösen Tod findet.

Mit vier Vorhängen und jubelndem Applaus wurde die Vorstellung vom Publikum gefeiert.

Man darf auf die nächste Produktion gespannt sein, denn mit den TheaterLaien hat Borbeck eine Gruppe, die sich sehen lassen kann.

Borbecker Nachrichten vom 10.07.2003

Premiere der TheaterLaien: Dürrenmatt

„Der Besuch der alten Dame“ steht auf dem Spielplan der „TheaterLaien“ aus Borbeck. Aufgeführt wird das Stück von Friedrich Dürrenmatt am Dienstag, 1. Juli, und am Freitag, 4. Juli, jeweils um 19 Uhr in der Aula des Mädchengymnasiums Borbeck, Fürstäbtissinstraße 52. Karten gibt’s an der Abendkasse.

Borbeck Kurier vom 25.06.2003